BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung: (K)ein Paukenschlag!
TBS-Berater Peter Stoverink über die Gestaltungsmöglichkeiten der Interessenvertretung rund um das Thema Arbeitszeit
Im Mai 2019 kam es beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) zum sogenannten Stechuhr-Urteil. Damals entschied der EuGH, dass Arbeitgeber durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen erfassen müssen. Einer der Gründe: Ohne ein System zur individuellen Messung der täglichen Arbeitszeit ist es nicht möglich, die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden, die zeitliche Verteilung sowie die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich zu ermitteln. Das hätte zur Folge, dass es für Arbeitnehmer*innen äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich ist, ihre Rechte durchzusetzen. Nach Auslegung des EuGH müssen somit alle Stunden der Arbeitszeit erfasst werden und nicht nur die Überstunden. Denn nur durch die effektive Einhaltung der Grenzen der Arbeitszeiten kann die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer*innen gewährleistet werden.
Das EuGH hat die gesetzliche Umsetzung der Entscheidung zur verpflichtenden Arbeitszeiterfassung den jeweiligen Mitgliedsstaaten überlassen. Allerdings wurde dieser Punkt bislang nicht in das deutsche Arbeitszeitgesetz aufgenommen. Dieses ermöglicht noch immer unter bestimmten Voraussetzungen, auf eine direkte Arbeitszeiterfassung zu verzichten. Obwohl das Europa-Recht in dieser Frage Vorrang vor dem deutschen Recht hat, haben daher eine Reihe von Arbeitgebern an der Praxis der Nicht-Erfassung von Arbeitszeiten festgehalten.
BAG-Urteil: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeiten inklusive der Überstunden individuell erfassen
Diese Interpretation ist nun mit dem Urteil vom Dezember 2022 des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hinfällig. Denn das BAG stellt klar, dass bei (EU)-unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)* der Arbeitgeber bereits jetzt gesetzlich verpflichtet ist, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Die alleinige Erfassung der Dauer der Arbeitszeit reicht dabei nicht aus, sondern es müssen der Beginn, das Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden. Die wichtigsten Punkte aus Sicht der Interessenvertretungen haben wir zusammengefasst.
Der Arbeitgeber muss die Arbeitszeit erfassen
Das BAG-Urteil stellt in (EU)-unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG fest: Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Grundlage hierfür sind die Pflichten des Arbeitgebers aus dem Arbeitsschutzgesetz, denen zufolge zur Planung und Durchführung von Gesundheitsschutzmaßnahmen eine geeignete Organisation und die erforderlichen Mittel durch den Arbeitgeber bereitzustellen sind. Nach Auffassung des BAG gehört eine Zeiterfassung dazu.
Der Arbeitgeber kann die Pflicht zur Erfassung delegieren
Arbeitgeber können nach wie vor die Erfassung der Arbeitszeit an Beschäftigte delegieren. Dies bedeutet aber nicht, dass der Arbeitgeber damit gänzlich aus der Pflicht ist. Denn er hat „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“ Zudem muss der Arbeitgeber seine Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auf Wirksamkeit überprüfen. Aufgrund seiner arbeitsschutzrechtlichen Verantwortlichkeit muss er kontrollieren, dass die Beschäftigten dieser Pflicht nachkommen und die gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen eingehalten werden.
(K)ein Initiativrecht des Betriebsrats
Das BAG verneint ein Initiativrecht des Betriebsrats auf die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems. Ein Initiativrecht besteht allerdings in Bezug auf Maßnahmen des Arbeitsschutzes im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz).
Wie muss die Zeit erfasst werden?
Hier macht das BAG keine konkreten Angaben. Allerdings wiederholt es die Anforderung des EuGH nach einem „objektiven, verlässlichen und zugänglichen System“. Das bedeutet, Zeitaufschreibungen müssen sachlich korrekt, vor unbefugter oder versehentlicher Verfälschung sicher und überprüfbar sein. Hier kommen Systeme nach dem Prinzip „Zettelwirtschaft“ aus unserer Sicht schnell an ihre Grenzen.
Was ist mit der Vertrauensarbeitszeit?
Im Allgemeinen wird unter „Vertrauensarbeitszeit“ ein Modell verstanden, bei dem nicht die zeitliche Präsenz der Arbeitnehmer*innen, sondern die Erledigung vereinbarter Aufgaben im Vordergrund steht. Die Arbeitnehmer*innen sind dabei für die Gestaltung und Erfassung der Arbeitszeit selbst verantwortlich. Somit ist „Vertrauensarbeitszeit“ nach wie vor möglich, es muss eben nur die Arbeitszeit erfasst werden und der Arbeitgeber muss seinen Kontrollpflichten nachkommen.
Fazit: Das BAG-Urteil stärkt die Position der Interessenvertretungen
Das BAG-Urteil bestätigt das EuGH-Urteil von 2019. Das Urteil des BAG stärkt die Position von Betriebsräten, die für eine vollständige Erfassung der Arbeitszeit im Sinne des Gesundheitsschutzes eintreten, ihr Initiativrecht wird unterstrichen. Nur mit erfassten Arbeitszeiten kann die Gefährdung, die von Arbeitszeiten ausgeht, überprüft werden. Nun kommt es auf den Gesetzgeber an, mit konkreten Regelungen für weitere Sicherheit zu sorgen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird voraussichtlich im ersten Quartal 2023 einen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz machen.