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Ist das prozessuale Verwertungsverbot gekippt?

Viele Betriebsvereinbarungen enthalten prozessuale Verwertungsverbote, sogenannte „Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbote“. Sie sollen verhindern, dass Arbeitgeber in einem Arbeitsgerichtsprozess gegen Arbeitnehmer*innen Beweise einsetzen können, die unter Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen oder Betriebsvereinbarungen gesammelt wurden. Umstritten waren diese Verbote schon länger. Nun hat der Kündigungssenat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) darüber geurteilt.1 Der Artikel beleuchtet das Urteil und beschreibt die Folgen für die Beschäftigten und Interessenvertretungen.

Recht sprechen mit unrechtmäßig gewonnenen Beweisen?

Im konkreten Fall hatten Beschäftigte direkt nach dem Einstempeln den Betrieb wieder verlassen und waren dabei gefilmt worden. Deshalb hat der Arbeitgeber ihnen wegen Arbeitszeitbetrug gekündigt. Dagegen sind sie vorgegangen. Die Videoüberwachung war offensichtlich, aber nicht durch Betriebsvereinbarung (BV) geregelt, und für die Zugangskontrolle war eine personenscharfe Auswertung per BV verboten. Die BAG-Entscheidung hält auch die unrechtmäßig gewonnenen Beweise für prozessual verwertbar und eine Kündigung wegen Arbeitszeitbetrugs für möglich. Eher nebenbei stellt sie betriebliche Regelungen mit Beweisverwertungsverboten pauschal in Frage.

Diese Entscheidung des BAG-Kündigungssenats ist juristisch umstritten. Wir konnten schon länger nicht von einer unbedingten Sperrwirkung der Verwertungsverbote ausgehen. Es ist auch Praxis der Landesarbeitsgerichte in NRW, nach der Verhältnismäßigkeit der Rechtsverletzungen zu fragen und dann von Fall zu Fall zu entscheiden. Dieses BAG-Urteil stellt nun auch das in Frage. Der für Betriebsverfassung zuständige
1. Senat oder der Europäische Gerichtshof könnten korrigieren, aber jetzt ist dieses Urteil erst einmal da.

Was bedeutet das Urteil für die Mitbestimmung?


Bestehende Betriebsvereinbarungen müssen nicht in Eile geändert werden, denn ein vereinbartes Verwertungsverbot dürfte weiterhin von etlichen Arbeitgebern und Arbeitsgerichten beachtet werden. Man sollte nur (wie schon bisher) nicht an eine unbedingte Wirkung glauben. Eine weitere rechtliche Untermauerung wie z. B. durch eine Gesamtzusage könnte die Interessenvertretung mit der Rechtsberatung ihres Vertrauens besprechen. Jedenfalls gewinnen technisch-organisatorische Maßnahmen durch das Urteil an Bedeutung. Was wird tatsächlich erhoben, von wem ausgewertet, wie lange gespeichert? Wird dann tatsächlich gelöscht? Oft lässt sich damit verhindern, dass etwas überhaupt anders als ursprünglich vereinbart genutzt werden kann, und unerwünschte Leistungs- oder Verhaltenskontrollen praktisch erschwert.

1    BAG 2 AZR 296/22 vom 29.06.2023, besprochen von Seebacher und Fleischmann in Arbeitsrecht im Betrieb 10/2023, S. 16