Die TBS-Berater Markus Dempki und Frank Strecker über Nudging – eine subtile Form der Beeinflussung menschlichen Verhaltens mit Hilfe von IT und Algorithmen
Sicher haben Sie das Wort „Nudging“ irgendwo schon einmal gehört. Aber ob Sie selbst schon einmal Ziel von Nudging geworden sind – da sind Sie sich vermutlich weniger sicher. Wörtlich übersetzt heißt es „Anstupsen“ und ist bereits in vielen digitalen Systemen im Einsatz. Zum Beispiel in dem Tool „MyAnalytics“ von Microsoft 365. Ein Thema also, das für Interessenvertretungen an Bedeutung zunehmen wird. Der Begriff „Nudging“ wurde von dem Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Richard Thaler sowie vom Rechtswissenschaftler Cass Sunstein geprägt. Sie verstehen darunter eine Methode, menschliches Verhalten unmerklich zu beeinflussen. Der Clou dabei: Nudging verzichtet auf Gebote und Verbote, ökonomische Anreize bleiben unverändert und an den Verstand wird auch nicht appelliert.
Die ethische Bewertung von Nudging ist komplex
Wie Nudging funktioniert, hat Thaler in Experimenten bewiesen. Wird in einem Urinal nahe beim Ausguss das Bild einer Fliege angebracht, verbessert sich die Treffsicherheit der Männer, und die Reinigungskosten sinken messbar. Steht in der Kantine ein Apfel vorn und der Pudding weiter hinten, wählen mehr Menschen den gesünderen Nachtisch. Wird mit dem Arbeitsvertrag nur eine bestimmte betriebliche Altersvorsorge angeboten, entscheiden sich mehr Beschäftigte für die Teilnahme als wenn sie zwischen mehrere Möglichkeiten wählen müssten.
Gesund leben, fürs Alter sparen, freundlich sein, das Klo sauber hinterlassen: Alles ehrenwerte Ziele, die zahlreiche Befürworter finden. Kritiker wie der Psychologe Gerd Gigerenzer betonen, dass dem Nudging ein pessimistisches Menschenbild zu Grunde liegt – hilflose Menschen, die zu lenken sind. Tatsächlich weicht Nudging von der Vorstellung des rein vernünftig entscheidenden Menschen, dem „Homo oeconomicus“, ab. Die Experimente der Verhaltensökonomen zeigen, dass Menschen oft nicht rationale Entscheidungen treffen, sondern den für sie nächstliegenden und bequemeren Weg wählen. Nudging macht dies planmäßig nutzbar.
Dynamisches Nudging als Stressfaktor im betrieblichen Alltag
Die oben genannten Beispiele beschreiben statisches Nudging. Der „Anstupser“ ist für jeden gleich und wird nicht kontextbezogen verändert. Dynamisches Nudging hingegen liegt vor, wenn die Entscheidungsunterstützung auf eine einzelne Person zugeschnitten werden kann – etwa mit Hilfe von IT-Systemen. Hier sind es die Algorithmen, die die Persönlichkeitsprofile von User:innen nutzen, um individualisierte Anstupser auszusenden. Das ist keine pessimistische Zukunftsahnung, sondern im Bereich der Internetwerbung bereits tägliche Praxis.
Wenn diese Technologie im betrieblichen Kontext eingesetzt wird, sind die Risiken zu bedenken, die für die Beschäftigten entstehen können. Denn dynamisches Nudging ist für Betroffene völlig undurchschaubar. Allein die Frage, ob ich eine Sonderbehandlung bekomme, kann Stress auslösen. Wieso gibt das System gerade mir diesen speziellen Tipp? Habe ich etwas falsch gemacht? Es gibt keine Augenhöhe in dieser Kommunikation. Auf der Sender-Seite steht psychologisch geschultes Fachpersonal, das Nudges gerade so ausklügelt, dass diese möglichst unbemerkt wirken. Auf der Empfänger-Seite befinden sich Menschen, die die Nudges in einer Flut von anderen Hinweisen erhalten und unbewusst darauf reagieren.
Was kann die Interessenvertretung tun?
Nudging ist in den Betrieben bereits angekommen. Siemens erhöht damit die Fertigungsqualität von Turbinenschaufeln, B. Braun nutzt es, um Meetings zu planen, und Bosch setzt es für objektivere Entscheidungen bei der Besetzung von Stellen ein. Microsoft 365 setzt Nudging ein, um Menschen zur intensiveren Nutzung der Plattform zu bewegen und Trainingsdaten für das maschinelle Lernen zu gewinnen. Moderne Personalsysteme können Mitarbeiter:innen zur regelmäßigen Beschäftigung mit den vereinbarten Zielen anleiten. Und es liefert die Basis für Systeme, die einen Wertewandel aus der Steckdose versprechen. Sie sind in der Lage, die Beschäftigten mit individualisierten Sinnsprüchen „anzustupsen“.
Die Anwendungsbreite von Nudging ist also bereits heute sehr groß. Wie kann die Interessenvertretung das Thema einordnen, sich dazu positionieren und verhalten? Folgende Leitfragen bieten einige Denkanstöße:
- Wird im Unternehmen bereits Nudging eingesetzt?
- Welche Ziele und Zwecke werden hierbei mit dem Nudging verfolgt?
- Sind die Ziele transparent und mit den Interessen und Bedürfnissen der Beschäftigten vereinbar?
- Lassen sich die Ziele und Zwecke durch Nudging wirklich erreichen?
- Ist Nudging in unserem Fall nachhaltig?
- Entspricht das Vorgehen unserer Kultur und unseren Werten?
- Gibt es bessere Alternativen zu Nudging?
- Ist ein Kompetenzaufbau zielführender als eine Beeinflussung durch Nudges?